"Mein Herz schlägt für die, die sich anstrengen müssen"

 

In Jeans und T-Shirt auf der Strecke und nebenbei noch ganz entspannt einen Plausch mit den Konkurrenten. Vor dem Rennen ein paarmal mit viel Muskelkraft durch die Senne, während sich die anderen für viele hundert Euro mit Sportklamotten nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen eindeckten und aufwändige Trainingsprogramme abarbeiten: Trotzdem war Heinz-Josef Krietenbrink bundesweit immer weit vorne bei den Handbike-Rennen. Schon das macht ihn besonders.

Er fährt immer noch Rad. Kürzlich war er am Möhnesee, 70 Kilometer hin, 70 Kilometer zurück. Das unternimmt er aber nur noch zum Spaß – und inzwischen mit Motor-Unterstützung. In einer Ecke seiner Werkstatt hängen, an zwei Nägeln befestigt, gebündelt die zahllosen Schlaufen samt Medaillen, die er während seiner aktiven Zeit erhielt. Die waren nicht nur für vorderste Plätze bei Handbike-Rennen, sondern vor allem Auszeichnungen aus seiner Zeit als Basketballer: Mit dem OSC Osnabrück wurde er 1997 deutscher Meister und Pokalsieger und spielte damals in der Basketball-Nationalmannschaft. Vom Sport leben konnte er jedoch nicht. Er bereitete ihm eine Menge Freude, bescherte ihm aber auch ungezählte Kilometer auf An- und Abreisen und Kosten, die niemand deckte. „Ich war damals überall in Europa am Start. Heute ist mir schleierhaft, wie ich das zeitlich geschafft habe“, erinnert sich der 61-Jährige.

Denn er war vor allem Arbeiter, sein Berufsleben lang bei Claas. Bis das Werk geschlossen wurde, in Schloss Holte. Ab 1990 dann in Paderborn mit seinen rund 600 Beschäftigten. Und er war und ist überzeugter IG Metaller. Mit 15 begann er seine Schlosserausbildung bei Claas, sein Vater war zu der Zeit Betriebsratsvorsitzender. „Unabhängig von familiären Bindungen war es damals keine Frage in unserem Werk: Alle Azubis gehen in die IG Metall“, weiß er. Beim Landmaschinenhersteller arbeitete er in vielen Abteilungen und mit noch mehr Aufgaben; in der Ventilmontage, im Elektronikbau, in der Qualitätssicherung, in der Datenverarbeitung und die letzten Jahre vor seiner Rente in der Logistik. Zu arbeiten fand er meistens nicht lästig, eher spannend und interessant.

In die Fußstapfen seines Vaters und damit als Betriebsratsvorsitzender in die erste Reihe treten, wollte er nicht. Er ist niemand, der sich gerne nach vorne stellt. Aber seinen Kollegen schätzten ihn. Er hörte zu, quatschte nicht rum, kümmerte sich. In den 1990ern wurde er einer der Vertrauensleute der IG Metall im Paderborner Claas-Werk – und blieb es bis zu seinem Ausscheiden vor gut zwei Jahren.

Er und Michael Köhler verbrachten mehr als zwei Jahrzehnte miteinander. Michael Köhler erfreut sich inzwischen auch einem Renterdasein. Zuvor war er 18 Jahre der Betriebsratsvorsitzende. „Wenn etwas dringend und sehr ärgerlich war, stieß er die Tür zu unserem Büro auf und er kam ohne Guten Tag und Guten Morgen gleich zur Sache“, blickt Michael Köhler, bis heute im Ortsvorstand der IG Metall Paderborn, zurück. Im Betriebsalltag sachlich, freundlich und ohne zu viel Worte, hatte er seine persönliche Siedetemperatur: dann pfiff der Dampf aus dem Kessel. „Ich habe schnell gemerkt, dass das keine heiße Luft war, sondern immer Substanz hatte. Unsere Zusammenarbeit war sehr gut. Er hatte als Vertrauensmann sein Ohr ganz nah an den Kollegen in seiner Abteilung. Wir als Betriebsrat waren dankbar für seine Informationen“, sagt er.

Ein scharfer Sinn für Gerechtigkeit

Häufig drehte es sich um Ärgernisse mit Führungskräften, die beispielsweise einen Urlaubsantrag eben mal ablehnten. In der Zusammenarbeit zwischen Vertrauensleuten und Betriebsrat konnten tatsächlich etliche Probleme der Kollegen gelöst werden. Was die beiden eint, ist ein scharfer Sinn für Gerechtigkeit. „Ich bin nicht nur ich. Mein Herz schlägt für die, die sich anstrengen müssen und die nicht die Position haben, sich gegen Ungerechtigkeiten zu wehren. Gewerkschaften sind dafür der richtige Ort, weil sie das Gemeinsame und Solidarische betonen und damit Möglichkeiten eröffnen, sich zu wehren“, sagt Heinz-Josef Krietenbrink.

Er war auch einer derjenigen, die bei Streiks dafür sorgten, dass die Abteilung geschlossen draußen vor der Tür stand und mitmachte. „Mit den Schloß Holtern, die nach Harsewinkel und Paderborn wechseln mussten, weil ihr Werk dichtgemacht wurde, kam eine ganz andere Kultur ins Paderborner Werk“, bestätigt Felix Wagner, Sekretär der IG Metall Paderborn. Beteiligten sich bei Streiks  und Aktionen zuvor nur wenige Dutzend Kollegen des Werks, wurden die Beschäftigten nun gut sichtbar, einfach weil sie viele waren.

Heute lebt Heinz-Josef Krietenbrink lebt zusammen mit seiner Frau Maria auf einem Hof am Ortsrand von Schloß-Holte. Die drei Hektar Land sind verpachtet, der bäuerliche Nebenerwerb seiner Eltern längst eingestellt. Den Acker vor dem Haus hat er in diesem Jahr in eine Wiese umgewandelt, die schon sattes Grün zeigt und auf der Pferde auslaufen. Der Unterstand auf der Wiese ist seit kurzem ein kleiner Pferdestall. Verpachtet hat er die Fläche nicht, dafür will er kein Geld. Es ist ihm eine Freude, dass dort nun Pferde und Reiterinnen Vergnügen finden.

Die Hofstelle hat er geerbt und sie nach und nach umgebaut. Die ehemalige Scheune, einst Abstellplatz für vier grüne Claas-Mähdrescher, mit denen die Familie für Lohn das Korn der Bauern in der Umgebung drosch, ist jetzt ein stattliches Wohnhaus mit kaminroter Außenhaut. Daneben in einem ehemaligen Stall, in dem früher Kühe und Schweine ein Dach hatten, hat er sich eine Werkstatt eingerichtet, in der er gerade an einem Radflitzer für eines seiner fünf Patenkinder schraubt. Eine Drehbank steht da, noch aus der DDR, sie wartet auf metallisches Futter. Allerlei Werkzeug findet fein geordnet seinen Platz.  Alle Wege zum und im Haus sind barrierefrei. Mit 25 hatte Heinz-Josef Krietenbrink einen Unfall, seitdem benötigt er einen Rollstuhl.

Als er 2021, nach 43 Jahren, bei Claas ausschied, konnte ihm, der sich regelmäßig um das Wohl anderer kümmerte, auch mal geholfen werden. Als Gewerkschaftsmitglied genießt er Rechtsschutz über den DGB. „Ich war überrascht, als ich den Bescheid über meine Erwerbsunfähigkeitsrente in den Händen hielt: Sie war auf drei Jahre befristet und in den ersten sechs Monaten sollte es gar kein Geld geben“, sagt er. Er legte Widerspruch ein, klagte mit Unterstützung des DGB-Rechtsschutzes gegen die Deutsche Rentenversicherung. Kurz vor dem Verhandlungstermin, im Sommer 2022, zog die Rentenversicherung zurück. Seine Erwerbsunfähigkeitsrente wurde entfristet, das Geld gab es rückwirkend vom ersten Tag an.

„Wir sehen immer wieder, dass die Renten- und Krankenversicherungen erst mal ablehnen. Das schadet den Menschen, die dringend auf die Leistungen angewiesen sind“, sagt Felix Wagner. „Wer eingeschränkt ist, kann sich oftmals schlecht wehren. Die Energie wird dann zwangsläufig dann in Widersprüchen und in langjährigen Verfahren mit aufwändigem Schriftverkehr gebunden. Das ist nicht fair. Dabei sollte es eigentlich selbstverständlich sein, die Leistungen, die einem nach dem Sozialrecht zustehen, unkompliziert zu erhalten“, sagt Heinz-Josef Krietenbrink. Da bleibt er ganz der Mensch, der Gerechtigkeit einfordert.